Koordinierungsstelle Marzahn-Hellersdorf

Neue Autoritarismus-Studie(n)

Ein zentrales Ergebnis der am 9.11.2022 neu erschienen Leipziger Autoritarismus-Studie von Oliver Decker und Elmar Brähler ist, dass „neben der Ausländerfeindlichkeit Rechtsextreme heute viel mehr Möglichkeiten [haben], in der Mitte der Gesellschaft Anschluss zu finden, nicht weniger“. Zu den Gründen gehören neben manifester Ausländerfeindlichkeit (mit ca. 22% im bundesweiten Durchschnitt), sich weithin stark verbreitende Ressentiments gegen andere, vor allem gegen Sinti*izze und Rom*nja (bis zu 61% in Ostdeutschland) sowie gegen Muslime (46% in Ostdeutschland), eine Zunahme von antifeministischen Positionen vor allem unter jungen Ostdeutschen (gestiegen von 18% auf 27%), aber gerade auch eine starke Tendenz zu autoritären Einstellungen einhergehend mit einer großen Unzufriedenheit mit der demokratischen Alltagspraxis und Partizipationsmöglichkeiten (unter 58%).

Ein großes Problem darunter ist der weiter schwellende Antisemitismus, welcher sich in der Zustimmung von bis zu 54,9% der Befragten zu Aussagen äußert, welche die NS-Vergangenheit und ihre Verbrechen als lange her, abgeschlossen und für das eigene Leben ohne Relevanz werten. 41% stimmen sogar der Aussage zu, dass Reparationsforderungen nur einer “Holocaust-Industrie” nutze. Eine weitere einschlägige Feststellung der Studie ist, dass zwar die Zustimmung zu Ressentiments und rassistischen Aussagen im Westen tendenziell leicht fallen, aber im Osten stärker ansteigen. Zwar sinkt hier der Anteil an Menschen, die ein geschlossenes extrem rechtes Weltbild besitzen (im Vergleich zur 2 Jahre zurückliegenden Studie von 10% auf 2,7%) und es stieg sogar die Zustimmung zur Demokratie als Staatsform auf 94,3% in Ostdeutschland (bundesweit auf 82%), aber dennoch gibt es gleichzeitig eine Enttäuschung über die Formen der Demokratie und die Vorstellungen davon nehmen weiter diskriminierende und autoritäre Züge an. Ein Bindeglied ist der Autoritarismus. Er vereint sowohl Ressentiments von Impfgegner*innen (13% der Befragten) und Anti-Impfgegner*innen (19% der Befragten), als auch von Russlandssympathisant*innen im Ukranien-Krieg und der Unterstützer*innen von Waffenlieferungen und eines harten Vorgehens. Autoritäre Einstellungen mit teils aggressiven Potential nehmen in einer enormen Breite der Gesellschaft bis hinein in liberale und libertäre Positionen zu. Auch deshalb  beschäftigen sich Wissenschaftler*innen und Autor*innen aktuell vermehrt mit dem Begriff des Autoritarismus, wie etwa jene im Sammelband “Treiber des Autoritären”, welcher von Günter Frankenberg und Wilhelm Heitmeyer herausgegeben wurde. Auch das Werk “gekränkte Freiheit” von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey ist lesenswert. Die Autor*innen beschreiben darin die “Querdenken-Bewegung” als von einem libertären Autoritarismus geprägt, welcher staatliche  und gesellschaftliche Institutionen verwirft und an deren Stelle eigene Emotionen und Narrative setzt und wie diese Bewegung von links kommend, nach rechts driftet und in Ostdeutschland aggressivere Formen annimmt. Für manche Autor*innen hat der Begriff des Autoritarismus das Potential die Entwicklungen der Gesellschaft nicht nur zu beschreiben, sondern zu erklären und gar eine moderne umfassende Gesellschaftstheorie zu bilden.

Zu diesem Thema haben wir eine Presseschau zusammengestellt:

Artikel zur Leipziger Autoriatarismus-Studie

Demokratie, aber Auoritär (nd, 9.11.2022)

Autoritarismus-Studie der Uni Leipzig: Der Hass bleibt (taz, 9.11.2022)

Wie der Antifeminismus in Deutschland erstarkt (welt, 9.11.2022)

Leipziger Autoritarismusstudie – weniger Rechtsextremismus in Deutschland, aber mehr Ressentiments (rnd, 9.11.2022)

Studie: Hass auf Zugewanderte nimmt in Deutschland zu (fr, 9.11.2022)

Interview Autoritarismusstudie: “Die Bereitschaft andere abzuwerten steigt” (tagesschau, 9.11.2022)

Langzeitstudie zu Demokratie und Extremismus: Deutschland paradox: weniger rechtsextrem, aber ausländerfeindlicher (dw, 9.11.2022)

Wandel antidemokratischer Motive: Die Leipziger Autoritarismus Studie 2022 (Amadeu-Antonio-Stiftung, 9.11.2022)

Leipziger Studie zu Rechtsextremismus: Bürger zufrieden mit Demokratie – Muslimfeindschaft nimmt aber stark zu (tagesspiegel, 9.11.2022)

Kommentar Autoritarismus-Studie: Mythos Mitte (nd, 9.11.2022)

Weniger Rechtsextreme und bleibender Hass (belltower, 15.11.2022)

 

Weitere Artikel und Veröffentlichungen zum Autoritarismus

Treiber des Autoritären: Pfade von Entwicklungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts (campus, 20.7.2022) 

Rezension: Bedingungsfaktoren für autoritäre Entwicklungen – ein neuer Sammelband (Endstation Rechts, 27.07.2022)

Gekränkte Freiheit: Aspekte des libertären Autoritarismus (suhrkamp, 10.10.2022)

Buch über einen neuen Typ von Protestierenden – „Gekränkte Freiheit: Aspekte des libertären Autoritarismus“ (SWR, 11.10.2022)

Eskalation in den Abgerglauben (taz, 18.10.2022)

Soziologe Oliver Nachtwey: “Querdenker haben kein Bedürfnis nach einer Führerfigur” (19.10.2022)

Was ist Autoritarismus? (nd, 29.10.2022)

Caroline Amlinger und Oliver Nachtwey: “Eine Bewegung von links mit Drift nach rechts” (fr, 31.10.2022)

Verschwörungstheorien, Corona-Proteste und ein neuer Typus von Autoritären (DerStandard, 4.11.2022)

Amlinger/Nachtwey “Gekränkte Freiheit”: Exzesse der Individualisierung (fr, 15.11.2022)

Wenn die Freiheit kippt. Gegen die Gesellschaft im Namen ihrer Werte (tagesspiegel, 16.11.2022)